Montag, 1. Mai 2006

Shoa und europäische Erinnerungskultur

Prof. Schmale erwähnte in unserer letzten Sitzung im Zuge der Präsentation der historischen Webseite pastperfect.at beiläufig die Problematik einer europäischen Erinnerungskultur, die als Basis eines transnationalen, kollektiven Bewusstseins dienen könnte. Aber gibt es denn tatsächlich eine europäische Erinnerungskultur? Und im Hinblick auf den aktuellen Themenschwerpunkt auf Pumbergers Blog: welche Rolle spielt der Ort "Shoa" in diesem Prozess?

Zweifellos bemühte sich jedes europäische Land nach 1945 zuallererst einen nationalen (Gründungs-)Mythen zu kultivieren, der grob gesprochen davon ausging, dass das eigene Land unverschuldet als Opfer der Hitler-Agression angesehen werden solle und die Shoa somit ein rein deutsches Problem sei. Im Laufe der Jahrzehnte, insbesondere nach 1989 wie es scheint, wurde aber Auschwitz – als Synonym für die gesamte Shoa – zum Inbegriff für Tyrannei, zum „Zivilisationsbruch“, der alle europäischen Länder betrifft. Einer der Grundpfeiler der Europäischen Union sind die Menschenrechte sowie die Demokratie. Auschwitz steht diesen Werten diametral gegenüber. Vereint in der Überzeugung des „plus jamais ça“ ist Auschwitz zu einem negativen Gründungsmythos für Europa und darüber hinaus geworden (vergleiche die UNO Resolution der Generalversammlung „Gedenken an den Holocaust“).

Jedoch muss man seit der Wende zu Beginn der 90er Jahre eine breitere Dimension in der europäischen Erinnerungskultur mit berücksichtigen. In Osteuropa* steht nicht Auschwitz im Vordergrund, sondern vielmehr die für diese Länder traumatischen Erlebnisse der sowjetischen Besatzung. In vielen Ländern Osteuropas, wie es scheint insbesondere im Baltikum, sind die Erfahrungen der Zeit von August 1939 bis 1989/91 einer der bedeutendsten Ausrichtungspunkte der politischen Kultur. Im „Museum of Lithuania“ in Vilnius beispielsweise wird offen von „genocide“ (also Völkermord) an der litauischen Bevölkerung gesprochen. Die lettische Präsidentin Freiberga ging bei ihren Wortmeldungen bei der „Sound of Europe“ Konferenz Ende Jänner in Salzburg ganz klar auf den negativen Bezugspunk „sowjetische Besatzung“ ein.

Neben offiziellen Erinnerungsfeiern und Statements auf höchster staatlicher Ebene, wird eine europäische Erinnerungskultur allerdings ebenso durch die gesellschaftliche Praxis des Erinnerns geprägt. Hier lässt sich feststellen, dass man großteils noch immer an einer nationalen Erinnerung festhält, die nur selten über den eigenen Tellerrand hinausblickt. Zwar wurden in den letzten Jahren in beinahe allen Großstädten Shoa-Gedenkstätten errichtet, jedoch wird dem Gedenken an die sowjetische Besatzung noch relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies wäre jedoch besonders wünschenswert, schließlich sollte man versuchen der Realität der Erinnerungskultur in den osteuropäischen Staaten Rechnung zu tragen, um in der Balance zwischen "Holocaust-Gedenken" und "Gulag-Gedenken" ein gemeinsames kollektives Gedächtnis schaffen zu können. Am 4.November jährt sich übrigens heuer die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes zum 50.Mal…

* In diesem Artikel wird die geographische Bezeichnung „Osteuropa“ im Bewusstsein der Ungenauigkeit des Begriffs und nur aus Gründen der Einfachheit, für alle europäischen Länder des sowjetischen Einflussbereiches verwendet.

Links:
Resolution der UNO Generalversammlung "Gedenken an den Holocaust" (pdf-Datei)
Seite zur Internationalen Konferenz "Overlapping Histories - Conflicting Memories"
Genocide's Victims Museum, Vilnius
Protokoll der Abschlussdebatte zur Sound of Europe Konferenz in Salzburg, 28.Jänner 2006 (pdf-Datei)
(Präsidentin Freiberga: S.7, S.16, S.24)

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Pumbergers Beiträge

Geschiten besser
ich fande es vorher auch viel besser.
HGH und Daniel (Gast) - Sa, 27. Okt, 00:29
Noch ein Kommentar für...
Auch ich habe in diesem Weblog regelmäßig mitgelesen...
Christa (Gast) - Do, 10. Aug, 23:53
Kommentar Schmale
Lieber Herr Pumberger, Ihre Weblogs wurden gelesen,...
Schmale - Di, 1. Aug, 16:15
das erste kommentar für...
na klar hab ich bei den anderen weblogs mitgelesen....
LaFlaca (Gast) - Di, 1. Aug, 10:54
Kommentar zur Variante...
Der letzte Beitrag muss sich natürlich mit der Vorlesung...
stephan.pumberger - So, 30. Jul, 23:23

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